Die neue Ausstellung des Porzellanmuseums im Augarten beleuchtet die 1920er Jahre mit ihren helldunkel schillernden Facetten aus der Perspektive eines besonderen Materials. Als „fein und kühn“ beschreibt die zeitgenössische Presse das seit 1923 im Wiener Augarten hergestellte Porzellan. In diesem Moment der Geschichte schritt die Millionenstadt Wien trotz der politischen und wirtschaftlichen Katastrophen motiviert in Richtung einer hoffnungsvollen Zukunft.
Zeitgeist und Moderne gehörten zu den Lieblingsbegriffen des allgemeinen, wenn auch nicht uniformen Aufbruchs. Die vibrierende Stimmung und das Selbstbewusstsein einer mutigen Zeit, die kaum ein Jahrzehnt dauerte, bleiben bis zu ihren Alltagsdingen spürbar. Die Ausstellung zeigt Träume und Realitäten der Künstler:innen und Mitarbeiter:innen, aber auch der Kundenkreise der Wiener Porzellanmanufaktur. Ganz Wien tanzte wild oder leise im flackernden Licht der Krisen. Elend und Glanz kamen einander näher als je zuvor. 2
Einen besonderen Stellenwert nahm die von Frauen aus unterschiedlichen urbanen Milieus initiierte Dynamik ein. Ihre Befreiung aus überkommenen Konventionen schien unaufhaltsam, wenn auch selbst in der Kunstwelt polemischer Widerstand laut wurde. Die Porzellanfiguren der Manufaktur Augarten, vorwiegend von Künstlerinnen der Wiener Werkstätte oder selbstständigen Keramikerinnen bzw. Bildhauerinnen geschaffen, sind nicht nur Belege des hohen gestalterischen und handwerklichen Niveaus sowie des Anspruchs einer zeitgenössischen Produktion, sie spiegeln auch die Symbole des Aufbruchs wider.
So nebensächlich er scheinen mag, der „Bubikopf“ als Frisur, auch gerne lässig englisch „Bob“ genannt, wurde dabei zum radikalen Zeichen des Bruchs mit den gängigen Rollenbildern. Die Scheren der zögerlichen Friseure arbeiteten pausenlos, Zöpfe und Chignons fielen auf Wunsch der Kundinnen reihenweise zu Boden. Das neuartige Ergebnis, das auch einen freien Blick ermöglichte und das individuelle Gesicht betonte, führte nicht selten zu privaten Zerwürfnissen und damit zu existentieller Bedrohung.
Ähnlich emotional wurden Hosenanzüge, Outdoor-Sportarten oder die Ausfahrten am „Weekend“ – ohne Begleitung versteht sich – am Steuer des eigenen Automobils diskutiert. Zum Entsetzen des bürgerlichen Mindsets übernahmen Frauen Privilegien und Äußerlichkeiten der herrschenden Männerwelt. Zigaretten, damals als Ausdruck neuer Unabhängigkeit, und ‚Pyjamas‘ auch in der Öffentlichkeit getragen waren kein bloßer mondäner Rollentausch, sondern Mittel eines gesellschaftlichen Wandels, der schließlich allen zugutekommen konnte. Ein allgemeines „Recht auf Licht und Luft“ und „eine volle Breitseite Sonne“, wie zeitgenössische Architektenstimmen forderten, schien greifbar.
Wann sonst sollte die Moderne gelebt werden, wenn nicht im Hier und Jetzt?
Zwei Professoren der Wiener Kunstgewerbeschule, der Architekt und Designer Josef Hoffmann, Mitbegründer der Wiener Werkstätte und zahlreicher Initiativen der Moderne, sowie der Keramiker Michael Powolny gehörten zu den frühen Ideengebern und künstlerischen Beratern der Porzellanmanufaktur Augarten. Beide erkannten das bisher gerne übersehene Potential der hervorragenden jungen Künstlerinnen verschiedenster Sparten, Absolventinnen oder Mitarbeiterinnen ihrer prominenten Projekte, oft auch selbst Jungunternehmerinnen. Der Porzellanmanufaktur wurden sie erfolgreich als Designerinnen für figurales Porzellan und neue Formen einer zeitgemäßen Tisch- und Wohnkultur empfohlen. Aus ihren unterschiedlichen Perspektiven und Stilen entstand in erstaunlich kurzer Zeit ein umfangreiches Repertoire, das sich entschlossen der Moderne widmete.
Daneben wurden von Mitarbeiter:innen des Hauses unter der Leitung des Obermalers Edwin Breideneichen Porzellane mit größter Sorgfalt aus alten Formen und Vorlagen des 18. und 19. Jahrhunderts produziert, eine Reverenz an die Tradition des Materials und der Identität des Unternehmens im Augarten als Nachfolgerin der kaiserlichen Porzellanmanufaktur.
Zu den bedeutenden Designer:innen des Wiener Porzellans der Zwischenkriegszeit zählen Franz Barwig, Walter Bosse, Hertha Bucher, Hildegunde Goldbach, Josef Hoffmann, Mathilde Jaksch, Karin Jarl, Hilda Jesser, Dina Kuhn, Michael Powolny, Otto Prutscher, Ena Rottenberg, Ida Schwetz-Lehmann, Vally Wieselthier und Franz von Zülow.
Mit den Dekoren von Friedrich von Berzeviczy-Pallavicini, der seine schöpferische Kraft einer Welt aus Schönheit und Zauber widmete, endet Mitte der 1930er Jahre die Chronik eines großen Traums.
Seit 1923 wird im Augarten feines Porzellan erzeugt. Im einstigen Festsaal des 1705 erbauten Schlosses arbeitete bis 1955 der historische zweistöckige Brennofen unermüdlich bei rund 1400 Grad Celsius. Heute ist er Ikone und Herzstück des Museums. Fotografien, Arbeitsmaterialien und ein Film erinnern an die Pionierzeit des Wiener Porzellans. Die Neuheiten der 1920er Jahre wurden zu Klassikern und somit auch zur Hommage an den hundertjährigen Brennofen, dessen erster Porzellanbrand am 20. August 1923 stattfand.
Das Fest der 100 Jahre beginnt mit der Ausstellung im Porzellanmuseum und einer Klanginstallation, die das österreichische Kulturerbe Wiener Porzellan hörbar werden lässt. Eine neue App der Sound-Experten von SONIC TRACES begleitet die Besucher:innen zudem zu seltenen historischen Objekten im Museum, aber auch zu persönlichen Geschichten des Porzellansammelns bis in die Gegenwart. Ab Mai 2024, anlässlich der offiziellen Eröffnung der Porzellanmanufaktur am 2. Mai 1924, wird eine akustische Zeitreise (immersive augmented audio stories), ebenfalls in Zusammenarbeit des Porzellanmuseums mit SONIC TRACES, Schloss- und Parkgeschichten auf überraschende Weise für unsere Besucher:innen erlebbar machen. Als ältester erhaltener Barockgarten Wiens vermittelt der Augarten noch heute sein Flair. Die Parkanlage und ein Teil ihrer Bauwerke stehen unter Denkmalschutz. Seit dem 18. Jahrhundert inspirierte der Augarten mit seinen Gewächshäusern die höfische Tafelkultur.
Rauschende Hof- und Volksfeste, aber auch Tanzveranstaltungen und Konzerte mit Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert und Johann Strauß belebten den „allen Menschen gewidmeten Erlustigungsort“ seit seiner Öffnung für das allgemeine Publikum durch Kaiser Joseph II. im Jahr 1775.
Die Wiener Porzellanmanufaktur Augarten und das Porzellanmuseum im Augarten feiern mit der Ausstellung ‚Plötzlich Bob. Symbole des Aufbruchs‘ und dem Digitalisierungsprojekt ‚Kulturerbe digital: Wiener Porzellan‘ ihr handwerkliches und künstlerisches Erbe, ihre Mitarbeiter:innen und ihre Pionierleistungen, aber auch den namensgebenden Standort der Manufaktur seit 1923. Nicht zuletzt gilt die Feier dem (immer aktuellen) Mut zum Aufbruch.